Poesie und Prosa in der abendländischen Malerei - page 1

Poesie und Prosa
in der abendländischen Malerei
Ein Kommentar zur Fülle der Ismen
vonWin Labuda
Magnifizenz, Spektabilitäten, Freunde,
Ich bedanke mich dafür, an diesem, mir liebgewordenen Ort, dem
Institut für Medizingeschichte- undWissenschaftsforschung der Univer-
sität zu Lübeck aus Anlass des siebzigsten Geburtstags von Manfred
Oehmichen, dem weltweit respektiertenWissenschaftler und dem
persönlichen Freund, vortragen zu dürfen. Die Tatsache, dass Manfred
Oehmichen sich nach seiner Emeritierung im Jahre 2005 ganz der
Malerei gewidmet hat, stand denn auch Pate bei der Themenwahl dieses
Vortrags.
Einführung
Zunächst werde ich einigeWorte zur geistesgeschichtlichen Entwicklung
des Poesiebegriffs sagen und diesen dem Begriff
Prosa
gegenüberstellen.
Dann werde ich vor dem Hintergrund einer bis ins Unerträgliche
gewachsenen Begriffsvielfalt für die Einordnung malerischer und kunst-
grafischerWerke (Tab. 1, 2) ein vereinfachtes System vorschlagen. Dieses
besteht aus lediglich sechs Kategorien. Mit dessen Hilfe lassen sich die
Werke der Malerei und der Kunstgrafik übersichtlich einordnen und
beschreiben. Auf der ersten Ebene eines solchen Ordnungsgefüges sollen
die drei Begriffe
gegenständlich, malerisch-abstrakt
und
konstruktiv-
abstrakt
Anwendung finden. Ergänzend dazu sollen auf der zweiten
Ebene die Begriffe
poetisch
und
prosaisch
übernommen und angewendet
werden. Bevor ich zum Schluß komme, werde ich kurz auf die
Befruchtung zwischen Malerei und dichterischer Poesie eingehen. In
meinem Nachwort will ich zum Sinngehalt vereinfachter Ordnungssy-
steme in der bildenen Kunst Stellung nehmen.
Was ist Poesie?
Die diversen Enzyklopädien beziehen den Begriff auf das gesprochene,
das geschriebeneWort. Andererseits ist Poesie imVerständnis des
deutschsprachigen Menschen eben nicht allein das, was heute mit Lyrik
bezeichnet wird. Poesie ist von dem griechischen
Poiesis
entlehnt. Dies
wird von Platon (Abb.1) in seiner Schrift „Gastmahl“ [1] allgemein als das
Hervorbringen von etwas aus dem Nicht-Anwesenden in das Anwesende
bezeichnet. Die folgende Zitatübersetzung aus dem Altgriechischen
stammt von Martin Heidegger, 1889-1976 (Abb. 2):
„Jede Veranlassung für das, was immer aus dem Nicht-Anwesenden über-
und vorgeht in das Anwesende, ist poiesis, ist Her-vor-bringen.“
[2]
Daraus lässt sich folgern, dass mit
poiesis
nicht allein die Kunst der Rede
oder der Dichtung gemeint gewesen sein konnte, sondern eher das zur
Bereicherung des Vorhandenen Hervorgebrachte ganz allgemein. Und
dazu gehörten in der damaligen Kunst Griechenlands auch die Dichtung,
die Skulptur und die Malerei. In diesem Sinne soll mein Vortrag Ihnen
einige Gedanken zumWesen der Kunst, insbesondere der Malerei nahe
bringen.
Der deutsche Philosoph Georg Friedrich Hegel, 1770 - 1831 (Abb. 3) war
es, der in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (in den Jahren 1835-1838
1
1 - Platon, 428 – 348 v. Chr.
2 - Martin Heidegger,
1889 - 1976
3 - Friedrich Hegel,
1770 - 1831
1 2,3,4,5,6,7,8,9,10,11,...13
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